Die Kirche leidet unter schwerem Glaubwürdigkeitsverlust und dem Verlust gesellschaftlicher Relevanz durch den Skandal, dass ihre höchsten Amtsträger Delikte sexueller Gewalt an Schutzbefohlenen durch Täter in ihren eigenen Reihen jahrzehntelang systematisch vertuscht haben.
Sie gerät in die Defensive gerade bei einem so wichtigen Thema. Bischof Bätzing hatte einen schweren Stand, zumal der theologisch "vorsintflutlich" rückständig argumentierende Bischof des Films als Sachverständiger in dem fingierten Prozess vor dem Ethikrat eine gefühlte Antipathie beim Zuschauer auf sich zog.
Als Christen aber sind alle angefragt, die durch ihre eigenen Erfahrungen mit dem Sterben naher Angehöriger oder im Umgang mit Schwerkranken im Hospiz kompetent sind.
Der Glaube und das Engagement aus dem Glauben eröffnet ungeahnte menschliche und spirituelle Dimensionen und Räume der Kommunikation im Umgang mit Sterbenden. Ich wünsche mir da eine neue Erzählkultur statt im Beklagen zu verharren, gerade auch in den geistlichen Gemeinschaften. Nur das erzeugt Glaubwürdigkeit. Die können Gesetze durch Verbote und Einschränkungen in einer liberalen, "atomisierten" Gesellschaft nicht erzwingen. Sie könnnen nur den "kleinsten gemeinsamen Nenner" definieren. (siehe das BVG - Urteil zur Sterbehilfe. das man kritisieren mag wegen einer "Dammbruch" - Gefahr. https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2020/02/rs20200226_2bvr234715.html
Zugerüstet und sensibilisiert für meine spätere Arbeit als Seelsorger u. a. auf der Gerontopsychiatrie wurde ich durch meinen Beistand als "Sterbehelfer", vielmehr "Geburtshelfer" beim Sterben von Vater und Mutter, wofür ich unendlich dankbar bin. Eine erfahrene Palliativärztin spricht von einer "erhabenen Zeit, groß und berührend. Von ihrer Intensität her sind sie nur mit einer Geburt vergleichbar." Genau so hatte ich es auch für mich empfunden. -
Hierzu nun ein Erlebnisbericht aus meiner beruflichen Erfahrung. -
Auf der Station traf ich auf eine alte Frau.
Sie hatte sehr isoliert gelebt, und als sie so hinfällig war, dass sie nicht mehr alleine in ihrer Wohnung zurechtkam, hatte sie den Versuch unternommen, sich tot zu hungern. Ich traf sie mit schwerem Dekubitus an, herrührend von einem gravierenden Pflegemangel in der Behandlungsseinrichtung zuvor, wie man mir sagte.
Da lag sie, die Arme auf der Brust ständig wie gefesselt überkreuzt - in totaler Verkrampfung auch die Hände, etwas Flauschiges umklammernd, dazwischengezwängt zur Linderung ihrer wunden Handinnenflächen.
‚Ist das noch ein menschenwürdiges Leben? Wäre es nicht besser gewesen, wenn... Sie wollte es doch. ’ –
Liebevolle Fürsorge von den Pflegerinnen, das Nötige zu tun, um den Dekubitus zu lindern, aber auch Ohnmacht, weil das Ende nahe schien. Ein Fall für den Seelsorger.
Ich besuchte sie die nächsten Tage regelmäßig und verweilte bei ihr. Was äußerlich zum Ausdruck kam, war wohl auch in ihr: Scham und Abwehr; es musste ihr unendlich viel ausmachen, so gedemütigt sich zeigen zu müssen. Ich wusste nichts weiteres von ihrer Geschichte, nur, dass sie alleinstehend war und den Lehrerberuf ausgeübt hatte. Zu ihrem Widerstand gehörte auch, dass sie ihre inneren Reaktionen verbarg – ich wusste nicht einmal, ob sie sich noch verbal verständlich machen konnte. Es war, als ob sie eine unsichtbare Sperrschranke „aussandte“, und mir war klar: Achtung und Behutsamkeit - den Abstand akzeptieren - waren gefragt. Einfach eine Weile stilles Dabeibleiben. Aus den spärlichen Daten und den eher „atmosphärischen“ Reaktionen formte sich dennoch in mir ein Bild von ihrer Persönlichkeit. Sie hatte in ihrem Privatleben Unnahbarkeit und Rückzug gelebt. Dieses Lebenskonzept stand total in Frage, jetzt, da sie sich wider Willen ausliefern musste. Aber eine innere Gewissheit sagte mir, dass sie auf der Suche nach Heilendem war. Sie spürte wohl, dass ich den Abstand respektierte und trotzdem nicht aufgab. Schließlich wagte ich zu verbalisieren, was sich mir aufdrängte, durch ihren äußeren Körperausdruck und den inneren Widerhall dessen, was ich „auf anderen nonverbalen Kanälen“ wahrnahm:
„Es muss Ihnen so gehen: ausgesetzt und wie ans Kreuz geschlagen.“
Dann kam mir der Zufall zu Hilfe, aber, so sage ich: „Es gibt keine Zufälle.“ Als ich eines Morgens kam, ging, wie auch sonst, leise das Radio im Hintergrund. Da standen plötzlich - ich wagte im ersten Moment kaum meiner Wahrnehmung zu trauen - lebendige Lied-Worte im Raum, aus dem toten Medium Radio wie persönlich in die Situation hineingesprochen:
„Zeit für Engel, Zeit für Licht.
Wisch die Tränen vom Gesicht!
Zeit für Abschied und Beginn;
es hat alles einen Sinn
Zeit für Engel, Zeit für Licht
wisch die Tränen vom Gesicht
Zeit zu hoffen, Zeit zu seh'n
daß wir nicht alleine geh'n“
- Engel als Boten waren offensichtlich im Spiel: Ich kannte das Lied nicht. Der WDR hatte Juliane Werding aufgelegt mit ihrem Lied „Zeit für Engel“.
- Das habe ich aber erst geraume Zeit danach erfahren, als eine lange nicht gesehene gute Bekannte zu Hause "hereinschneite", der ich beim Austausch von beruflichen Erlebnissen davon erzählte. Zudem hatte sie auch noch zufällig die Kassette mit dem Lied und überließ sie mir. -
Nur wenige Tage später, es war ein Sonntagmorgen und die Glocken der Klinikkirche läuteten gerade zur Messe, da kam aus dem Munde der Todgeweihten die erste klare verbale Äußerung mir gegenüber:
„Danke!“
Nun wusste ich mit Gewissheit, dass ich den Weg in ihr Vertrauen gefunden hatte. Diese Öffnung mir gegenüber, dieses Vertrauen empfand ich als ein großes Geschenk. Zwei Tage später verstarb sie.
Aber es gab noch eine unerwartete Begegnung am Grabe. Ich hatte die Grippe und war zu Hause geblieben. In der Zeitung stieß ich auf eine Todesanzeige mit ihrem Namen und beschloss, als Rekonvaleszent, an der Beisetzung teilzunehmen. Außer mir waren noch drei Frauen am Grabe. Es stellte sich heraus, dass es ehemalige Kolleginnen waren. Sie hatten die Verstorbene nicht aus den Augen verloren, obwohl diese jeden näheren Kontakt mit ihnen ablehnt hatte. Sie hatte bis zuletzt ihr Leben strikt als Einzelgängerin gelebt, "Streng katholisch", und mit täglichem Messebesuch. Ihr Ausbleiben fiel auf; und so hatten die Kolleginnen nach ihr geschaut und sie im Elend vorgefunden.
Es war insofern eine Offenbarung für mich, als sich mein inneres Bild von ihrer Persönlichkeit vollauf bestätigte. Um so mehr bin ich dankbar, dass kurz vor ihrem Tod die Mauer aus Isolation und Verweigerung abgebaut und das letzte Wort ihres Lebens das „Danke“ war. Ihr Glaube, die Gemeinschaft der Kirche erwies sich als ein unsichtbares Netz, das sie auffing.
In der Tat: „Es gibt ein Wachsen und ein Werden inmitten eines Zustandes, der nach Ende aussieht.“
Link zur Sendung (gültig bis 23.11.2021 "Gottes Wille und des Menschen Freiheit"